Sunday, July 30, 2017

Berlin Breitscheidplatz: kam der LKW aus der Kantstrasse?


Kölner Stadt-Anzeiger


Bundesanwalt Thomas Beck ist Leiter der Abteilung Terrorismus beim Generalbundesanwalt und referierte am 3. Juli vor dem Innenausschuss des Berliner Parlamentes zu der LKW-Terrorattacke in Berlin. Die Sitzung war öffentlich, ein Protokoll ist verfügbar. Während es in seinem Vortrag primär um die Personalie Amri ging, fasste er auch kurz den Ablauf am Tattag zusammen. Dabei fiel ein höchst bemerkenswerter Satz: 
Am 19. Dezember 2016 fuhr gegen 20 Uhr in Berlin ein Sattelschlepper der Firma Scania nebst Auflieger mit polnischem Kennzeichen, von der Kantstrasse kommend, mit einer Geschwindigkeit von ca. 49 km/h in die Einfahrt des Weihnachtsmarkts an der Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz.
Schon von der Kantstrasse kommend hätte bei den Anwesenden tiefes Stirnrunzeln hervorrufen müssen, denn die Version "Kantstrasse" kursierte nur in den allerersten Tagen nach dem Anschlag, danach griff allgemeiner Konsens Platz, dass der LKW aus der Hardenbergstrasse gekommen sein musste. Kombiniert mit einer Geschwindigkeit von ca 49 km/h wird aber regelrechter Unfug draus, denn der LKW hätte eine extrem enge 120-Grad-Kurve nehmen müssen (von der Kantstrasse über die Kreuzung zur Eintrittsstelle neben der Fussgängerampel der Budapester Strasse).

Reaktionen oder Nachfragen blieben aber aus. Offenbar merkte niemand im Ausschuss - oder wollte niemand merken - dass in dem von Bundesanwalt Beck kolportieren Szenario ein schwerer Fehler steckt. Der LKW kann die Kurve nicht so schnell genommen haben. Vielleicht kannten die Zuhörer ja nicht den Eintrittspunkt und vermuteten, der LKW sei von der Kantstrasse direkt, also unter Umgehung der Kreuzung, auf den Markt gefahren. In diesem Fall hätte er lediglich einen kleinen Schlenker nach rechts machen müssen. Das Schadbild am Breitscheidplatz lässt aber diese Version nicht zu, obwohl sie von mehreren Zeitungen genau so illustriert worden ist:

Frankfurter Allgemeine


Spiegel

Stern


Wie konnte es zu diesen synchronen Falschgrafiken, die alle vom 20. Dezember datieren, kommen? Wie sich nach kurzer Recherche herausstellt, war es die Berliner Polizei, die am 19.12. um 23 Uhr die Information "Kantstrasse" in die Welt setzte:
Laut dem Pressesprecher der Berliner Polizei, Thomas Neuendorf, kam der Lastwagen von der Kantstraße auf den Weihnachtsmarkt gefahren und ist in der Gasse zwischen den Buden durchgefahren.
https://www.vice.com/de/article/ypvkd5/lkw-rast-in-den-weihnachtsmarktpolizei-meldet-bisher-neun-tote

Wie die Polizei zu dieser Information kam, ist nicht schwer zu erraten. Es gab wohl reichlich Zeugen, die die Anfahrt des LKWs beobachtet hatten. Offenbar ergab sich bei deren Befragung ein eindeutiges Bild zugunsten der Kantstrasse. Hätte es unter der Zeugenschaft einen massiven Widerspruch zwischen Version "Kantstrasse" und Version "Hardenbergstrasse" gegeben, hätte sich die Polizei in dieser Frage mit Sicherheit bedeckt gehalten.

Mit der Information "Kantstrasse" im Gepäck erging dann in den Medienhäusern ein Eilauftrag an die jeweiligen Grafiker, ein Bild des Tatorts anzufertigen. Dabei wählten die verantwortlichen Journalisten unisono die Route von der Kantstrasse direkt auf den Markt, ohne sich zu vergewissern, ob der Einfahrtspunkt überhaupt korrekt war. Und so nahm das Desaster der Fake News-Grafiken seinen Lauf.

Nach und nach sickerte jedoch wohl die Erkenntnis durch die Redaktionen, dass da irgendetwas nicht mit dem konkreten Bild des Tatorts zu vereinbaren war. Nun kamen Formulierungen ins Spiel, die immer noch die Kantstrasse erwähnten, aber nicht zwingend als Anfahrtsstrecke festlegten:
Der Lastwagen fuhr laut Polizei im Bereich Kantstraße Ecke Budapester Straße gegen 20 Uhr auf einen Gehweg nahe dem Weihnachtsmarkt.
http://www.bento.de/today/berlin-lkw-rast-in-weihnachtsmarkt-am-breitscheidplatz-polizei-spricht-von-anschlag-1077350/

Die Berliner Polizei ging indes immer noch von der Kantstrasse als Anfahrtsweg aus. Sie klapperte  am 21. 12. die Geschäfte an der Kantstrasse ab, um etwaiges Videomaterial von Überwachungskameras in die Hand zu bekommen. Noch immer ist von der Hardenbergstrasse nicht die Rede.

Der Tag danach, der 22.12., brachte dann die Veröffentlichung des berühmt-berüchtigten Dashcam-Videos, in dem der LKW eindeutig aus der Hardenbergstrasse kommt. Für die "öffentliche Meinung" waren damit die Tage der Kantstrasse gezählt. Die Ermittlungsbehörden enthielten sich allerdings einer Stellungnahme zu dem Video. Und wie der Vortrag von Bundesanwalt Beck zeigt, ist die Kantstrasse dort offenbar noch nicht zu den Akten gelegt.

Becks Aussage ist eine weitere verwirrende Beigabe zu dem bereits existierenden Potpourri bezüglich Fahrtweg und Geschwindigkeit des LKW. Wie bereits berichtet, legte sich die ZEIT in einem rückblickenden Artikel darauf fest, dass der LKW mit nur 15 km/h über den Weihnachtsmarkt fuhr. Sie stützte sich dabei auf GPS-Daten, die ihr offenbar zugespielt worden waren. Der Gegensatz zwischen Bundesanwaltschaft (Kantstrasse/49 km/h) und ZEIT (Hardenbergstrasse/15 km/h) könnte nicht krasser sein.



Der ZEIT-Artikel behauptet, ebenfalls basierend auf GPS, der LKW habe um 19:57 am Ernst-Reuter-Platz "gewendet". Um 20:02 sei er dann - wie bekannt - auf den Markt gefahren. Nun ist es vom Ernst-Reuter-Platz bis zum Breitscheidplatz nicht weit, etwas mehr als 1 Kilometer. Die wenigen Ampeln auf dieser Strecke sind in grüner Welle geschaltet. Zur Zeit des Anschlags gab es nur sehr mässigen Verkehr, das weiss man von Videos. Mit anderen Worten: der LKW hatte so gut wie freie Fahrt. Er hätte für die Strecke eigentlich nur eineinhalb bis zwei Minuten brauchen sollen. Dass er ganze fünf Minuten brauchte, wirft Fragen auf. Was hat die Verzögerung verursacht?

Wie bereits berichtet, erklärte BKA-Chef Holger Münch dem Innenausschuss des Bundestages in einer geheimen Sitzung am 21. 12., der LKW habe den Tatort Breitscheidplatz erst einmal umrundet, bevor er auf ihn auffuhr. Wenn der LKW um 19:57 am Ernst-Reuter-Platz war und um 19:59 am Breitscheidplatz ankam, hätte er mit drei Minuten (bis 20:02) noch ausreichend Zeit gehabt, um diese Umrundung zu realisieren. Bundesanwalt Beck könnte also Recht gehabt haben, als er sagte, der LKW sei aus der Kantstrasse gekommen. Womit er mit Sicherheit Unrecht hatte, ist die Geschwindigkeit von "ca. 49 km/h".

Die Angelegenheit bedarf dringendst der Klärung.



Wednesday, May 31, 2017

Berlin Breitscheidplatz: die ungeklärte Geschwindigkeit des LKW


- oder: was macht die "Ermittlergruppe City"?

 

 

 

Die Geschwindigkeit, mit der der LKW bei seiner Amokfahrt über den Weihnachtsmarkt "raste", war monatelang Gegenstand von Gerüchten und Spekulationen. Zeugenaussagen waren widersprüchlich, Medienberichte ungenau und Ermittlungsbehörden wortkarg. Dann überraschte die ZEIT am 5. April mit detaillierten, auf GPS-Daten gestützten Angaben, die unscheinbar in einen langen Rückblick eingebettet waren:
Um kurz nach 20 Uhr hält er an einer roten Ampel. Als die Ampel auf Grün springt, fährt Amri an. Es ist 20.02 Uhr. Mit rund 15 km/h schiebt sich der LKW auf den Weihnachtsmarkt. 15 km/h sind nicht besonders schnell, doch an diesem Abend auf dem überfüllten Markt genug, um Menschen zu überrollen und Buden niederzureißen.
http://www.zeit.de/2017/15/anis-amri-anschlag-berlin-terror-staatsversagen/komplettansicht 

Aus dem "Rasen" ist auf einmal ein "Schieben" geworden. Ob 15 km/h schnell genug sind, um 12 Menschen zu töten und Dutzende zu verletzen sei einmal genauso dahingestellt wie die Behauptung, der Markt wäre "überfüllt" gewesen (das war er allen öffentlich zugänglichen Fotos und Videos zufolge wohl nicht). Interessant ist aber, dass diese langsame Geschwindigkeit nicht nur in Widerspruch zu dem berühmt-berüchtigten Dashcam-Video steht, auf dem der LKW erkennbar schneller ist und nicht an einer roten Ampel hält, sondern auch zu einer Meldung, die eine Woche nach dem Anschlag in der ganzen Republik die Runde machte: dass der LKW durch das automatische Bremssystem in seiner Fahrt gestoppt wurde.
Bei dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember war es offenbar einer technischen Vorrichtung am Lastwagen zu verdanken, dass nicht noch mehr Menschen ums Leben gekommen sind. Nach Informationen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR kam der Lkw nur deshalb nach 70 bis 80 Metern zum Stehen, weil die Zugmaschine mit einem automatischen Bremssystem ausgerüstet war. Zu diesem Ergebnis kommt die Ermittlergruppe "City", die unter Leitung des Generalbundesanwalts den Anschlag aufklären soll.

Das automatische Bremssystem reagiert demnach auf einen Aufprall und betätigt von selbst die Bremsen. "Diese Technik hat Leben gerettet", hieß es in Berliner Regierungskreisen. Wäre der Lastwagen damit noch nicht ausgerüstet gewesen, wären wohl viel mehr Menschen gestorben. Bei einem ähnlichen Anschlag in Nizza am 14. Juli 2016 waren auf der Uferpromenade mehr als 80 Passanten getötet worden.
 
http://www.sueddeutsche.de/politik/terroranschlag-lkw-bremssystem-verhinderte-noch-mehr-tote-in-berlin-1.3312551

Der Artikel ist eine Koproduktion der renommierten Journalisten Hans Leyendecker, Georg Mascolo und Nicolas Richter und wurde von der gesamten deutschsprachigen Medienlandschaft zitiert und diskutiert. Die Darstellung (...kam der Lkw nur deshalb nach 70 bis 80 Metern zum Stehen...) insinuiert eine hohe Geschwindigkeit mit einem langen Bremsweg. 

Jedoch: Mit 15 km/h hätte der LKW einen Bremsweg von maximal 3 Metern gehabt. Er wäre schon vor der ersten Kollision mit einem Menschen oder einer Bude automatisch abgebremst worden, mithin sehr bald und mitten auf dem Weihnachtsmarkt zum Stehen gekommen. Die Aussagen der beiden Artikel sind schlicht unvereinbar. Experten zweifeln überdies angesichts der Luftaufnahmen vom Tatort an, dass ein automatisches Bremssystem zum Zuge kam. 

Die Quelle für den Bericht der Süddeutschen Zeitung war eine beim Generalbundesanwalt angesiedelte "Ermittlergruppe City". Die Gruppe dürfte mit den GPS-Daten ebenso vertraut sein wie die Ermittlerkreise, auf die sich die ZEIT beruft. Dieser offene krasse Widerspruch ruft nach einer Klarstellung seitens des Generalbundesanwalts, des BKA, des LKA Berlin oder einer anderen an den Ermittlungen beteiligten Behörde. Wie schnell war der LKW?

Von der "Ermittlergruppe City" hörte man nach dieser Meldung lange nichts mehr, bis sie just heute als BKA-Sonderkommission mit "hunderten Beamten" wieder ins mediale Rampenlicht trat.

http://www.tagesschau.de/inland/amri-berlin-ermittlungen-101.html


Sunday, May 07, 2017

Berlin Breitscheidplatz: das Dashcam Video ist Fake News - bestätigt


In den zwei letzten Beiträgen (hier und da) habe ich schon auf den dubiosen Charakter des Dashcam-Videos hingewiesen, wofür vor allem die Anonymität, der unmotivierte Schnitt und die unsäglich schlechte Bildqualität stehen. Beide Artikel basieren aber ansonsten auf der Annahme, dass über diese peripheren Bearbeitungen hinaus keine konkreten, "chirurgischen" Eingriffe ins Bildmaterial vorgenommen wurden (dass also etwa der LKW an bestimmten Stellen hineinkopiert wurde). Von dieser Annahme ausgehend kam ich zu dem Schluss, dass der LKW auf der Strasse bleibt und nicht über den Weihnachtsmarkt fährt.

Die Annahme ist nicht mehr haltbar, mit anderen Worten: es hat wohl konkrete Manipulationen am Bildmaterial gegeben. Ich habe zwei frames (Standbilder) isoliert. Eines davon schliesst die Möglichkeit aus, dass der LKW auf den Weihnachtsmarkt fährt, das andere schliesst aus, dass er auf die Budapester Strasse fährt. Conclusio: es wurde gefälscht.

Der Nachweis läuft dergestalt: es gibt im Dashcam-Video eine Reihe von vertikalen Landmarken wie Laternen, Ampeln, Weihnachtsbäume und Ecken von Gebäuden oder Buden. Wenn der LKW an so einer Landmarke vorbeifährt, lässt sich seine Position eingrenzen auf die Sichtlinie zwischen Dashcam und Landmarke. Das Prinzip habe ich bereits in meinem letzten Artikel erläutert. Der LKW verfügt ausserdem selbst über drei im Video erkennbare vertikale Marken, nämlich die rechte Vorderkante sowie die rechte und linke Hinterkante.

Mit Hilfe zweier (oder mehr) Landmarken lässt sich nun der Abstand zwischen rechter Vorder- und Hinterkante, also die Länge des LKW, recht gut abschätzen. Diese war real 16,5 Meter, was sich natürlich im Satellitenbild wiederfinden sollte. Und hier liegt das Problem.

In diesem Standbild...



...ist die rechte Vorderkante des LKW unsichtbar, weil durch den Weihnachtsbaum verdeckt. Dieser stellt also eine Landmarke dar, mit deren Hilfe man die Position der Vorderfront eingrenzen kann. Entprechendes gilt für die Fussgängerampel mitten auf der Kantstrasse (erkennbar an dem dreieckigen "Vorfahrt beachten"-Schild auf der Spitze), die genau auf einer Linie mit der rechten Hinterkante des LKW liegt. Das führt zu folgendem Diagramm:


Hierbei repräsentieren gelbe Punkte Landmarken wie Laternen, Ampeln oder Gebäudeecken, gelbe Rechtecke Buden vom Weihnachtsmarkt und grüne Rauten die pyramidenförmigen Weihnachtsbäume. Das rote Rechteck repräsentiert die Position des LKW, falls er auf den Weichnachtsmarkt gefahren wäre. Diese lässt sich relativ genau bestimmen, weil die enge Einfahrtschneise wenig Spielraum lässt.

Die rechte Hinterkante des LKW liegt auf einer Sichtlinie mit der Fussgängerampel F1 und der Ecke des flachen Bikini-Vorbaus. Mit einer Länge von 16,5 Metern müsste das Führerhaus dann im Standbild sichtbar sein, den Weihnachtsbaum W1 passiert und die Sichtlinie zur Fussgängerampel F2 (gestrichelt) erreicht haben. Da das nicht der Fall ist - der LKW müsste etwa 3 Meter kürzer sein, um dem Standbild gerecht zu werden - dokumentiert das Standbild, dass er nicht auf den Weihnachtsmarkt gefahren ist. Was es dagegen möglich erscheinen lässt, ist ein Einbiegen in die Budapester Strasse (blaue Rechtecke).

Mit der Unschärfe des Videos oder des Satellitenbildes oder grafischen Ungenauigkeiten lässt sich die krasse 3-Meter-Diskrepanz im übrigen nicht erklären. Eine minimale Verschiebung der Sichtlinien würde an der Beweisführung nichts ändern.

Ein paar Zehntelsekunden später ist dieses Standbild entstanden:


Das schwarze Quadrat umfasst die Bude an der Ecke, mit der Leuchtleiste an der Dachkante und der kranzförmigen Zierbeleuchtung auf dem Dach. Der LKW fährt gerade hinter dieser Bude vorbei. Das erkennt man daran, dass er ein Licht verdeckt, das im vorherigen Standbild noch sichtbar ist:


Es wird an dieser Stelle vorübergehend dunkler, und die Dauer dieser Abdunklung entspricht genau der Geschwindigkeit des LKW. Das Licht scheint durch die vordere und rechte Seite der Bude hindurch und muss von der Bude gegenüber stammen - die ja tatsächlich hell erleuchtet war, wie man von diversen Videos weiss. Die folgende Grafik illustriert die Situation:



Die rechte Hinterkante des LKW liegt diesmal auf einer Sichtlinie zum Bikini, zu einem Punkt etwas rechts von der Ecke des Hauptgebäudes. Sobald der LKW die Sichtlinie durch die Fussgängerampel F2 überschreitet, beginnt er die Beleuchtung der gegenüberliegenden Bude zu verdecken. Dieses Standbild wirft also für eine Auffahrt auf den Weihnachtsmarkt keine Probleme auf - wohl aber für ein Einbiegen in die Budapester Strasse, erstens weil der LKW die Beleuchtung nicht verdecken würde, und zweitens, weil er mit seiner Vorderfront noch weit entfernt von der F2-Sichtlinie wäre. Diesem Standbild nach ist der LKW also nicht auf die Budapester Strasse gefahren.

Da ausser Weihnachtsmarkt und Budapester Strasse keine anderen Fahrtrouten denkbar sind, heisst das, dass die beiden Standbilder sich widersprechen. Dann muss aber an mindestens einem von beiden eine konkrete Fälschung vorgenommen worden sein, womit das Dashcam-Video als Fake News entlarvt ist.

Das hat weitreichende Konsequenzen. Der Verdacht ist erhärtet, dass das Video gezielt angefertigt und verbreitet wurde, um eine bestimmte Version der Ereignisse - nämlich dass der LKW, von der Hardenbergstrasse kommend, auf den Weihnachtsmarkt raste - im Bewusstsein der Menschen zu verankern. Das Video ist der einzige konkrete Hinweis für eine hohe Geschwindigkeit bei Auffahrt auf den Markt, und mit seiner Falsifizierung gewinnt das Szenario, dass der LKW langsam war, massiv an Plausibilität.

Eine weitere Konsequenz ist, dass auch anderen Details in dem Video nicht zu trauen ist - etwa der Uhrzeit 20:01, die die Gedächtniskirche anzeigt.




Dazu werde ich im nächsten Blog-Post Stellung nehmen.




Tuesday, April 18, 2017

Berlin Breitscheidplatz: Dashcam-Video zeigt, wie LKW am Weihnachtsmarkt vorbeifährt



Das berühmt-berüchtigte Dashcam-Video wurde am 22. 12. 2016, drei Tage nach dem Anschlag, von der Nachrichtenagentur Reuters publiziert und verbreitete sich schnell weltweit. In Deutschland war es vor allem die Bild-Zeitung, die es förderte und dafür sogar ein eigenes Video mit einem erklärenden deutschen Sprechtext fabrizierte:

http://www.bild.de/news/inland/terrorberlin/der-moment-des-anschlags-49455400.bild.html

Der Sprecher behauptet, man sähe auf dem Video, wie der LKW auf den Weihnachtsmarkt rast. Das ist nicht ganz richtig. Man sieht, wie der LKW auf den Weihnachtsmarkt zurast. Ob er tatsächlich auf den Weihnachtsmarkt fährt oder doch auf der Budapester Strasse bleibt, ist seit der Veröffentlichung Gegenstand heftiger Diskussion. Einige gehen sogar so weit, das Video als Beweis dafür zu nehmen, dass der LKW überhaupt nicht über den Weihnachtsmarkt fuhr, sondern von der Budapester Strasse in die Budengasse hinein zurücksetzte. Dieser Schluss ist nicht statthaft, weil man, selbst wenn der LKW im Video auf der Budapester Strasse bleiben sollte, nicht weiss, was er danach gemacht hat. Es gibt eine Alternative.

Das Dashcam-Video hat es dank der geballten Medienpower in die "offizielle Version" geschafft, es kommt aber mit einigen Pferdefüssen daher, und das mag der Grund sein, warum die Politik es mit wesentlich spitzeren Fingern angefasst hat als die Presse. Zunächst einmal ist der Macher anonym, und im Gegensatz zu den meisten anderen wichtigen Zeugen ist er das bis heute. Es zeigt zwei Szenen vom Tatort, die zusammengeschnitten wurden, die zeitliche Länge des Schnittes ist unbekannt. Die Bildqualität ist erstaunlich schlecht und entspricht nicht dem Stand heutiger Aufnahmetechnik. Und groteskerweise scheint im Video die Uhr an der Gedächtniskirche genau 20:00 Uhr anzuzeigen, also zwei Minuten bevor der Anschlag erfolgte.

Die verschwommene, schlechte Aufnahmequalität ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass die Frage, wo der LKW in dem Video entlang fährt, bis dato nicht geklärt werden konnte. Bei besseren Bildern hätte man nämlich Landmarken wie Laternenpfähle, Ampeln, Wegweiser, Bäume usw. besser erkannt und deren Position in Beziehung zum LKW setzen können. Erfreulicherweise ist es mir nun trotzdem gelungen, zwei wichtige räumliche Bezugspunkte zu lokalisieren.


Es handelt sich einmal um die Laterne, die für den LKW die rechte Begrenzung der Einfahrtschneise darstellte (Laterne A), und zum anderen die erste Laterne auf dem Mittelstreifen der Budapester Strasse (Laterne B). Auf dem folgenden Bid sieht man Laterne A im Vordergrund und Laterne B ganz links im Bild.



Beide Laternen sind im Dashcam-Video zu identifizieren. Laterne B ist angeschaltet, und die Lampen sind als zwei helle, nebeneinander liegende kreisrunde Flecken erkennbar. Laterne A ist zwar ausgeschaltet, aber dafür näher an der Kamera. In den Sekunden 0:00 bis 0:04 rollt das Dashcam-Auto noch, und man erkennt (wenn auch unscharf), wie Pfahl und Lampenschirm von Laterne A durch den Perspektivwechsel nach links wandern und um 0:05, wie das Auto, zum Stehen kommen.

Um 0:04 bzw. 0:19 trifft es sich, dass die beiden Laternen von der Dashcam aus auf einer (Sicht-)Linie liegen. Der LKW befindet sich gerade zwischen ihnen, und seine rechte hintere Kante liegt auf der nämlichen Linie.  Der folgende Schnappschuss ist von 0:19, zunächst ohne, dann mit Legende:






Laterne A ist schwer erkennbar, die Lokalisierung von Lampe und Pfosten fällt aber leicht, wenn man vorher im Video ihre Positionsveränderung von 00:00 bis 00:05 bzw. von 00:15 bis 00:20 beobachtet hat. Auch beim LKW hilft eine Betrachtung der vorhergenden (Zehntel-)Sekunden.

Die hintere rechte Kante des LKW liegt also genau auf der gedachten Linie zwischen den beiden Laternen. Wie das Titeldiagramm zeigt, hat der LKW in diesem Moment die mögliche Einfahrtsschneise bereits in voller Länge passiert. Er ist auf der Budapester Strasse, nicht auf dem Weihnachtsmarkt! 


Wem jetzt Zweifel kommen, dem sei nochmals angeraten, die Sekunden 00:00 bis 00:05 bzw. 00:15 bis 00:20 zu studieren, wenn möglich in Zeitlupe. Er wird die beiden hell erleuchteten Lampen von Laterne B erkennen und bei genauem Hinsehen auch die zarten dunklen Umrisse von Laterne A, wie sie nach links huschen.

Das Dashcam-Video zeigt also lediglich, wie ein LKW am Weihnachtsmarkt vorbeifährt. Höchstwahrscheinlich ist es der gleiche LKW, der wenig später tatsächlich auf den Markt fährt. Wie bereits hier ausgeführt, kann das dann aber nur heissen, dass er in der Zwischenzeit eine Runde gedreht hat, was allerdings durchaus im Einklang mit verschiedenen Pressemeldungen ist.

Es bleibt unklar, warum der Generalbundesanwalt in seiner Pressemitteilung vom 4. Januar, in der er den letzen Teil der Strecke ansonsten minutiös darlegt, diese Extra-Runde nicht erwähnt.



Tuesday, February 28, 2017

Berlin Breitscheidplatz: die Kreuzung Kant/Budapester/Hardenbergstrasse als Chronometer



Zehn Wochen nach der Berliner Amokfahrt sind wesentliche Details des Ablaufs noch immer ungeklärt. Der LKW sei aus der Kantstrasse gekommen, hiess es anfangs von der Polizei. Wenn man gut aufpasste, erfuhr man zwei Tage später, dass er vor der Tat einmal um den Tatort herumgefahren war. Am nächsten Tag servierten Reuters, Bildzeitung und andere Massenmedien dem Volk dann das Dashcam-Video eines anonymen Autofahres, auf dem vorgeblich zu sehen ist, wie der LKW, von der Hardenbergstrasse kommend, in den Weihnachtsmarkt "rast". Wie hoch seine Geschwindigkeit genau war, konnte die Polizei mittlerweile sicherlich ermitteln. Sie ist diese Information der Öffentlichkeit allerdings schuldig geblieben. Zeugenaussagen dazu sind widersprüchlich; es gibt manche, die das "Rasen" bestätigen, andere sagen, unter vorgehaltener Hand, der LKW sei langsam gefahren.

Eine wortkarge Staatsanwaltschaft und Polizei machen die Lage nicht besser. Um das informative Chaos zu entknäueln, bleibt dem verantwortungsbewussten Staatsbürger also nichts anderes übrig, den Ablauf, insbesondere Fahrtweg und Geschwindigkeit, selbst zu rekonstruieren, so gut es eben geht. Es liegen tatsächlich zahlreiche Videos und Fotos vor; bei den allermeisten jedoch fehlt die für eine tragfähige Rekonstruktion unerlässliche Information, wann genau sie aufgenommen worden sind. 

Dieser Artikel stellt ein Werkzeug zur Verfügung, um die Realzeit bekannter und eventuell noch auftauchender Videos auf die Sekunde genau zu bestimmen. Es ist die Ampelschaltung an der Kant/Budapester/Hardenbergstrasse. Diese ist erfreulicherweise im Minutentakt geschaltet.


Das Diagramm stellt einen Ampelzyklus (= 1 Minute) dar. Die schwarzen Segmente repräsentieren die Grünphasen der jeweiligen Ampel oder Fussgängerampel. Der Fussgängerweg über die Budapester Strasse hat zwei verschiedene Phasen, eine für jede Fahrbahn. Das Diagramm ist ausserdem "geeicht" auf die Uhr der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Die 12-Uhr Stellung des Diagramms repräsentiert den Moment, in dem der Minutenzeiger der Uhr von einer Stellung auf die nächste gleitet. Dafür braucht er 2 bis 3 Sekunden. Das ist recht langsam, mit etwas Mühe kann man aber den Moment erkennen.

Die Synchronisation von Ampelschaltung und Uhr gelingt mit Hilfe verschiedener Videos, allen voran das eines skeptischen "Privatdetektivs", der Tage später am Tatort ein Video drehte, dabei minutenlang an der Kreuzung verweilte und oft auch die Uhr im Bild hatte. Auch das wohlbekannte Hollitzer-Video oder das eines am Bikini wartenden Journalisten zeigen gelegentlich Ampelschaltungen und die Uhr. Und natürlich hat jeder Berliner oder Berlin-Besucher buchstäblich "jederzeit" die Gelegenheit, das Diagramm zu überprüfen. Eine Unschärfe von +-1 Sekunden ist dabei jedoch, schon allein wegen der Gelbphasen, zu berücksichtigen.

Unter der Voraussetzung, dass die Uhr der Gedächtniskirche genau geht, also der Zeiger immer zur vollen Minute auf die nächste Stellung rutscht, lassen sich nun reale Startsekunde und Endsekunde aller Videos bestimmen, in denen eine umschlagende Ampel zu sehen ist.

Das Dashcam-Video ist ein solcher Fall. Es ist aus zwei Teilen zusammengesetzt. Der erste Teil zeigt die Kreuzung und den LKW, wie er sie überquert. Die Sequenz wird gleich mehrmals gezeigt, zunächst von 0:00 bis 0:15. Ein anderer Abschnitt, von 0:24 bis 0:34, setzt später ein, läuft aber 3 Sekunden länger.

Gegen 0:31 sieht man, wie sich die Autos auf der Linksabbieger-Spur der Budapester Strasse langsam in Bewegung setzen: sie haben Grün. Vier Sekunden später, um 0:35, müsste folglich die Ampel der Kantstrasse auf Gelb/Grün schalten, doch kurz vorher erfolgt der Schnitt. Teil I endet also unmittelbar vor der Grünphase der Kantstrasse. Setzt man die sich überlappenden Schnipsel von 0:00-0:15 und 0:24-0:34 zusammen, ergibt sich insgesamt eine Sequenz von 18 Sekunden.

Der zweite Teil läuft von 0:35 bis 0:48, ein kurzer Teil davon wird anschliessend wiederholt. Um 0:47 schaltet die Fussgängerampel der Budapester Strasse, Seite Breitscheider Platz, auf Grün. Somit lässt sich auch Teil II in das Diagrammschema einordnen und zu Teil I in zeitliche Beziehung setzen.

Die Länge des Schnittes zwischen den beiden Teilen (bei 0:34/0:35) kann also auf die Sekunde genau bestimmt werden - allerdings zunächst ohne Kenntnis der Minuten. Er ist entweder 8 Sekunden lang, oder 1 Minute 8 Sekunden, oder 2 Minuten 8 Sekunden, und so fort. Nun sieht man aber in Teil 1 ganz andere Autos als in Teil 2 - die Szene hat sich völlig verändert. Eine solche Veränderung kann sich unmöglich in 8 Sekunden vollzogen haben. 

Die zeitliche Differenz zwischen Teil I und Teil II beträgt demnach mindestens eine Minute. Die vom BKA verlautete Extrarunde um den Tatort legt nahe, dass Teil I vor der Umrundung entstand und Teil II zwei Ampelzyklen später. Das heisst aber nichts anderes, als dass der LKW im Dashcam-Video auf der Budapester Strasse bleibt und nicht, wie vom Sprecher suggeriert, dabei zu sehen ist, wie er auf den Weihnachtsmarkt rast. 

Fragen ergeben sich zum anonymen Macher des Dashcam-Videos. Warum blieb der mindestens eine Ampelphase lang an Ort und Stelle, und warum filmte er den am Weihnachtsmarkt vorbeirauschenden LKW und nicht den, der zwei Minuten später tatsächlich auf den Markt fuhr?


Tuesday, January 31, 2017

Berlin Breitscheidplatz: das Dashcam-Video und der Trick mit der Extrarunde





Zwei Tage nach dem Anschlag ging eine wenig beachtete, aber von höchster Stelle autorisierte Meldung durch die Medien: BKA-Chef Holger Münch teilte dem Innenausschuss des Bundestages in einer nicht-öffentlichen Sitzung mit, dass der Sattelschlepper den Tatort Breitscheidplatz erst einmal umrundet hatte, bevor er auf den Weihnachtsmarkt fuhr. Die Auswertung der GPS-Daten hätte das ergeben.

Diese Nachricht ist geeignet, Licht in das Rätsel des sogenannten Dashcam-Videos zu bringen, das ja angeblich den LKW unmittelbar vor der Auffahrt auf den Platz zeigt und u.a. von der Bild-Zeitung unters Volk gestreut wurde. Ausser dem Umstand, dass das Video in der Mitte einen Schnitt unbekannter Länge aufweist, gibt es zwei schwerwiegende Probleme:

1 - Die Geschwindigkeit des LKW, etwa 60 km/h, ist viel zu hoch, um den engen Rechts-Links-Schlenker über den Markt ausführen zu können. Die Fliehkräfte hätten ihn wahrscheinlich umkippen lassen und die Schäden an den Buden wären deutlich grösser ausgefallen. Ausserdem wäre der LKW, Bremsautomatik hin oder her, nicht schon nach 50 Metern zum Stehen gekommen.

2 - Die Uhr an der Gedächtniskirche, die kurz zu sehen ist, zeigt genau 20:00 Uhr an. (Diese Beobachtung verdanken wir der youtube-Bloggerin Klugschieterin).



Das steht im Widerspruch zu den offiziellen Angaben, dass bei der Polizei die ersten Notrufe um 20:02 eingingen. Denn die erfolgten höchstens 10 bis 20 Sekunden nach dem Halt des LKW: bekanntlich informierten mehrere Anrufer die Polizei über den in Richtung Bahnhof Zoo flüchtenden Fahrer. Spätestens nach 20 Sekunden dürfte er den Hardenbergplatz erreicht haben und damit ausser Sichtweite der Augenzeugen gewesen sein.

Auf welcher Strecke der LKW die vorgezogene Runde fuhr, liegt bei einem Blick auf den Stadtplan auf der Hand, lediglich das letzte Stück bedarf weiterer Erörterung: Budapester Str. - Nürnberger Str. - Tauentzienstr. - Kurfürstendamm - Joachimsthaler Str. - Hardenbergstr./Kantstr.
Diese Karte zeigt die Version mit Kantstrasse:


Daraus ergibt sich ganz zwanglos eine Lösung des Dashcam-Rätsels.

Der LKW erreichte den Breitscheidplatz erstmals via Hardenbergstrasse um 20:00 Uhr, drehte seine Extrarunde, kam um 20:02 wieder an der Ecke Hardenbergstr./Kantstr./Budapester Str an und fuhr erst dann auf den Weihnachtsmarkt. Die gezeigte Fahrtstrecke ist etwa 1,5 km lang. Berücksichtigt man, dass die ersten Notrufe erst um 20:02:30 oder gar 20:02:45 eingegangen sein könnten (bei Abrundung auf die volle Minute), und dass die Uhr im Dashcam-Video möglicherweise auf einigen Sekunden vor 20:00 steht, hätte der LKW bis zu drei Minuten Zeit für die Runde gehabt, was einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 30 km/h entspricht. Das Manöver ist also problemlos machbar.

Das Dashcam-Video zerfällt demnach in zwei Teile: der Teil vor dem Schnitt, mit dem vorbeirasenden LKW, wurde etwa um 20:00 Uhr aufgenommen, der zweite Teil etwa um 20:02.

Nun zur Frage, ob der LKW die Kantstrasse nahm oder erst am Bahnhof Zoo rechts in die Hardenbergstrasse einbog. Die ersten Meldungen nach dem Anschlag besagen ausnahmslos, dass der LKW von der Kantstrasse kommend auf den Weihnachtsmarkt fuhr. Die Hardenbergstrasse kam erst am Tag danach ins Spiel und schien zwei Tage später durch das Dashcam-Video eine unwiderlegbare Bestätigung erfahren zu haben.

Die Extrarunde kann also nicht nur die Ungereimtheiten des Dashcam-Videos schlüssig erklären, sondern auch die frühen Meldungen über die Fahrtroute. Weitere Überlegungen lassen es sogar als hochplausibel erscheinen, dass der LKW von der Kantstrasse kam:

Das Dashcam-Video ist offensichtlich kein Zufall, sondern in Zusammenarbeit mit dem LKW-Fahrer entstanden. Es diente ausschliesslich dem Narrativ, dass der LKW mit hoher Geschwindigkeit auf den Markt raste. Von der Kantstrasse kommend musste der LKW hingegen eine scharfe Rechtskurve hinlegen und hätte seine Geschwindigkeit auf etwa 20 km/h vermindern müssen. Bei dieser Geschwindigkeit hätten sich die allermeisten Menschen auf dem Weihnachtsmarkt rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Verletzte oder gar Tote hätte es, wenn überhaupt, nur in ganz geringer Zahl gegeben.

Die Fake News "Dashcam" wurde der Nachrichtenagentur Reuters zugespielt und von dieser am 22.12. 2016 veröffentlicht. In Deutschland wurde es vornehmlich von der Bild-Zeitung verbreitet, aber praktisch alle Medien hängten sich an den Zug an, ohne den fragwürdigen Charakter des Videos, etwa den Schnitt in der Mitte, gebührend zu erwähnen.

Mit der Erkenntnis, dass der LKW, vermutlich von der Kantstrasse kommend, recht langsam auf den Weihnachtsmarkt auffuhr, ergeben sich Fragen und Forderungen an die Behörden:

-  Veröffentlichung der GPS-Daten des LKW und Skizzierung des Fahrtwegs inklusive Extrarunde;
-  Stellungnahme dazu, dass dem Dashcam-Video nicht schon bei Erscheinen widersprochen und es als Fake News entlarvt wurde;
-  Bekanntgabe der Geschwindigkeit des LKWs bei Auffahrt auf den Weihnachtsmarkt;
-  Stellungnahme zu der Frage, wie ein derart langsamer LKW eine derart hohe Anzahl von Menschen töten und verletzen konnte.


Sunday, January 22, 2017

Berlin Breitscheidplatz: die unsichtbaren Opfer



Bei dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz sollen 12 Menschen ums Leben gekommen sein. Die Zahl der Schwerverletzten wurde anfangs mit 18 angegeben, noch drei Wochen später wurde von 11 Personen berichtet, die schwer verletzt in Kliniken lagen. Es soll 30 bis 40 Leichtverletzte gegeben haben.

Der Umgang der Behörden mit den Opfern, vor allem mit den verstorbenen, hat viel Kritik hervorgerufen. Ihre Identität wurde bis auf Ausnahmen nicht veröffentlicht, es fand keine angemessene Trauerfeier statt, und die Abfindung für die Angehörigen sei viel zu niedrig, hiess es. Vieles bleibt merkwürdig oder im Dunklen.

Ein grosses Rätsel wurde von Politikern und Publizisten dabei noch nicht thematisiert: auf Foto- und Videoaufnahmen scheinen deutlich weniger Menschen Opfer des LKWs geworden zu sein als die offiziellen Zahlen glauben lassen. Die Übersichtlichkeit des Tatorts lädt dazu ein, dieser Frage einmal genauer nachzugehen. Die Evidenzlage ist zwar knapp, reicht aber glücklicherweise aus, um Tatort samt Opfern grob skizzieren zu können. Es gibt drei authentische Quellen:

- ein Foto eines RussiaToday-Reporters  (Titel-Foto)
- das Video von Jan Hollitzer von der Berliner Morgenpost (Hollitzer-Video)
- ein Video von offenbar arabischen Passanten, das einen Tag später ins Netz gestellt wurde (arabisches Video)

Das Hollitzer-Video ist chronologisch das letzte. Das erkennt man daran, dass um 0:45 eine Latte auf ein auffälliges weisses Trümmerstück auf dem Boden geworfen wird. Dieses Trümmerstück ist auch auf dem RT-Foto (im Hintergrund) und im arabischen Video zu sehen - bevor die Latte darauf zu liegen kommt. Ausserdem hört man im Hollitzer-Video schon ganz am Anfang Polizeisirenen; im arabischen Video setzen die erst im späteren Verlauf leise ein.

Das Hollitzer-Video beginnt etwa vier bis fünf Minuten nach dem Anschlag. Das heisst, dass alle drei Beweisstücke innerhalb der ersten sechs Minuten entstanden und somit eine hohe Authentizität für sich in Anspruch nehmen können. Die Bildqualität der Videos lässt zu wünschen übrig, trotzdem lassen sich die Positionen der Opfer gut genug rekonstruieren. Foto und Videos bestätigen sich gegenseitig - viele Personen sind auf zwei oder allen drei Aufnahmen abgebildet. 

Während Hollitzer der Fahrtrichtung des LKW folgt, laufen die arabischen Videomacher in Gegenrichtung durch die Gasse. Das RT-Foto ist nahe der Einfahrtstelle aufgenommen und deckt immerhin die erste Hälfte der verwüsteten Strecke gut ab.

Wie erkennt man nun eine möglicherweise schwerverletzte oder verstorbene Person auf den Aufnahmen? Das sind natürlich erst einmal die, die man auf dem Boden liegen sieht. Manche Verletzte sind aber durch hockende oder knieende Helfer verdeckt. Hockende oder knieende Menschen sind also ein "Anzeiger" für einen Verletzten. Auf Basis dieser Kriterien lässt sich ein Diagramm erstellen, das erstaunlich wenig schwerverletzte oder tote Opfer zeigt:



Nach gründlicher Analyse lassen sich neun potentiell Schwerverletzte/Tote identifizieren. Die violetten Ovale symbolisieren diejenigen, die man auf dem RT-Foto ausmachen kann. Auf dem arabischen Video kann man noch drei weitere erkennen, die durch die blauen Ovale symbolisiert sind. Das Hollitzer-Video lässt nur die drei Opfer weiter links erkennen (zwei blaue Ovale, ein violettes).

In Anbetracht der mangelhaften Bildqualität der Videos gibt es möglicherweise noch das ein oder andere zusätzliche Opfer, das von der Grafik nicht erfasst wird. Auch mögen noch zwei oder drei Menschen unter dem LKW gelegen haben. Das alles kann aber die riesige Diskrepanz zu der offiziellen Zahl von 30 Schwerverletzten/Toten nicht erklären. Warum bloss sieht man auf den Aufnahmen so wenige Menschen auf dem Boden liegen?

Das RT-Foto, das Hollitzer-Video und das arabische Video sind Zeitdokumente. Man kann sie ignorieren, aber ihre Echtheit lässt sich nicht bestreiten. Es gibt mit Sicherheit jede Menge private Fotos oder Videos von den Minuten direkt nach dem Anschlag, die den vorliegenden Befund verifizieren und jederzeit auftauchen könnten. Die offiziellen Stellen sind dazu aufgerufen, zu erklären, wie sie zu ihren hohen Opferzahlen gelangt sind.

Saturday, January 07, 2017

Berliner Amokfahrt: Flucht über den Bahnhof Zoo



Die Sprecherin der Bundesanwaltschaft, Frauke Köhler, konnte der Presse am 4. Januar interessante Neuigkeiten über die Flucht des Täters mitteilen:
Nach dem eigentlichen Anschlagsgeschehen konnten wir feststellen, dass kurz nach der Tat eine männliche Person im Bereich Bahnhof Zoo von einer Videokamera aufgezeichnet worden ist. Wir gehen davon aus, dass es sich bei dieser männlichen Person um Anis Amri handelt. Die Bilder, die wir einsehen konnten, legen nahe, dass Amri wusste, dass er sich bewusst war, dass er aufgezeichnet wird von dieser Videokamera. Er wendet sich der Kamera zu und zeigt in die Kamera den sogenannten - ich hoffe ich spreche das jetzt einigermassen richtig aus - Tauhid-Finger. Das ist ein erhobener Zeigefinger. 
Die Bundesanwaltschaft ist sich also sehr sicher, dass der Mann in diesem Video tatsächlich Anis Amri ist, sonst hätte sie das nicht offiziell mitgeteilt. Das wirft einige interessante Fragen auf und lädt angesichts der bestehenden Ungereimtheiten dazu ein, den Fluchtweg des Täters im Bereich Bahnhof Zoo etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

Der Beginn des Fluchtwegs ist unstreitig. Es gibt viele Augenzeugen für den Anfang der Flucht, manche davon meldeten sich sofort bei der Polizei. Schon die allerersten Berichte besagen, dass der Täter vom LKW aus in Richtung Bahnhof Zoo wegrannte. Etwas später kamen Meldungen hinzu, ein Verdächtiger sei nach einer Flucht durch den Tiergarten an der Siegessäule festgenommen worden. Schliesslich bestätigte die Berliner Polizei, dass ein Zeuge dem Mann durch den Tiergarten nachgelaufen war und so entscheidend zur Festnahme beigetragen hatte.

Vom Bahnhof Zoo bzw. dem vorgelagerten Hardenbergplatz aus gibt es nur eine Verbindung zum Tiergarten, die der Täter genommen haben könnte, einen Fussweg entlang der Bahngleise. Dieser Ausschnitt zeigt den Anfang des Fusswegs:

Google Street View

Um von der Hardenbergstrasse möglichst schnell und unauffällig zu diesem Punkt zu kommen, wählte der Täter mit hoher Wahrscheinlichkeit den Bürgersteig direkt am Zoo entlang, anstatt mitten über den Platz mit seinen zahlreichen Hindernissen zu laufen, als da wären Menschen, Busse, Bussteige, Poller, usw. Das Diagramm skizziert den mutmasslichen Fluchtweg:




Ein Abgleich dieser Strecke mit den neuen Informationen der Bundesanwaltschaft wird leider durch deren Vagheit erschwert: war der Standort der besagten Kamera innerhalb des Bahnhofs oder draussen vor dem Bahnhof, und wenn draussen wo genau? Auf Fotos lassen sich mindestens zwei Überwachungskameras am Vordach des Bahnhofsgebäudes festmachen. Ausserdem könnten sich natürlich noch Kameras am gegenüberliegenden Gebäude (Hardenbergplatz 2) oder auf dem Platz selbst befinden, obwohl man auf Bildern keine erkennen kann.

Wie dem auch sei, die neuen Informationen passen überhaupt nicht zu dem, was man von Augenzeugen über den flüchtenden LKW-Fahrer weiss. Es ist unfassbar, dass der Täter sich bei seiner Flucht den zeitlichen Luxus erlaubte, seinen Lauf zu unterbrechen, sich der Kamera zuzuwenden und eine überflüssige Geste vorzutragen. Sollten die Aufnahmen von einer Aussenkamera am Bahnhofsgebäude gemacht worden sein, wundert man sich ausserdem, dass der Täter einen Fluchtweg mit so vielen Menschen und anderen Hindernissen wählte anstatt am Zoo entlang zu laufen.

Sollten die Aufnahmen jedoch innerhalb des Bahnhofsgebäudes gemacht worden sein, steht das gesamte Narrativ der Flucht in Frage. Dann suchte der Täter nämlich nicht durch das Dunkel des Tiergartens zu entschwinden (Polizeisprecher Wenzel), sondern im Gewusel des Bahnhofs. Und auch wenn eine kontinuierliche Beschattung des Täters durch "Zeuge X" schlussendlich verneint wurde, versicherte Polizeipräsident Kandt, dass der Beginn des Fluchtwegs bekannt und der Kontakt zum Flüchtenden erst später verloren gegangen wäre. Wann genau "später" bleibt unklar. Sollte Zeuge X den Täter aber schon am Hardenbergplatz aus den Augen verloren haben, weil der im Bahnhof verschwand, hiesse das, dass er im Tiergarten jemand anderen verfolgte, der aus irgendwelchen Gründen nachts durch den Park rannte. Die Festnahme des rennenden Naved B - der ja nicht vom Bahnhof Zoo gekommen sein will - war dann nur der letzte einer Serie unglaublicher Zufälle.

Um diese kognitive Diskrepanz bei der kriminalistischen Aufarbeitung des Terroranschlags zu lindern täte die Bundesanwaltschaft deshalb gut daran, zu präzisieren, wo genau und wann genau die Aufnahmen mit dem mussmasslichen Anis Amri entstanden.




Thursday, January 05, 2017

Berliner Amokfahrt: Flucht durch den Tiergarten



Die Berliner Polizei konnte der "Welt" 12 Stunden nach dem Weihnachtsmarkt-Anschlag die Geschichte einer erfolgreichen Verfolgungsjagd zustecken, die sicherlich noch nach Generationen weitererzählt worden wäre: die Geschichte des mutigen Zeugen ("Zeuge X"), der dem Täter durch den dunklen Tiergarten nachlief und der Polizei dabei telefonisch dessen Fluchtroute durchgab. Hollywood hätte womöglich Interesse angemeldet.

Doch daraus wurde nichts. Die Geschichte verschwand schneller von der Bildfläche, als sie ans Tageslicht gekommen war. Die Aussage von Zeuge X wurde in Zweifel gezogen, der vermeintliche Täter freigelassen, und kurze Zeit später stand ein anderer Mann als Hauptverdächtiger im Mittelpunkt.

Warum die Berliner Polizei sich zunächst so sehr auf Zeuge X verliess und ihn dann so schnell fallen liess, ist ein Mysterium. Da hatte also eine Streife einen rennenden Mann an der Siegessäule aufgelesen und festgehalten, weil Zeuge X sie telefonisch zu diesem Ort hingelotst hatte. Bedankten die Polizisten sich dann bei Zeuge X - der nicht weit entfernt irgendwo im Tiergarten war - und schickten ihn zurück zum Breitscheidplatz? Wohl kaum; sie brauchten ihn ja zur Identifizierung des Mannes, den sie angehalten hatten. Und da Zeuge X ohnehin in der Nähe war, dürfte er bald zu ihnen gestossen sein und den Mann, dessen Name mit Naved B oder Navid B angegeben wird, positiv als den LKW-Fahrer identifiziert haben.

Man kann diesen Ablauf angesichts des Statements von Polizeisprecher Wenzel als gegeben annehmen. Zeuge X war der Hauptbelastungszeuge, aber es ist durchaus denkbar, dass noch andere Zeugen vom Breitscheidplatz, die den flüchtenden LKW-Fahrer gesehen hatten, bei der Polizei vorbeikamen und Naved B zu Gesicht bekamen. Falls das so war, haben sie anscheinend Zeuge X's Einschätzung eher bestätigt als bezweifelt.

Doch dann verschwanden Naved B und Zeuge X innerhalb von Stunden von der Bildfläche. Zeuge X wurde implizit des Irrtums bezichtigt. Er habe den Täter im Tiergarten aus den Augen verloren. In den anschliessenden offiziellen Erklärungen ist das Bemühen spürbar, die schiere Existenz von Zeuge X zu verschleiern. Polizeipräsident Kandt formuliert im Passiv: "der Fahrer ist ein Stück weit verfolgt worden", "der Beginn des Fluchtwegs sei bekannt", "der Verdächtige stand nicht lückenlos unter Beobachtung"...

Woher die neue Bewertung kommt, dass Zeuge X den Täter nicht kontinuierlich "auf dem Schirm" gehabt habe, bleibt unklar. Hat er seine Aussage von sich aus am Dienstag morgen - denn um diese Zeit kippte die Sache - relativiert? Oder gab es plötzlich Gründe, an seiner Glaubwürdigkeit zu zweifeln? Hatten die Polizisten, die mit ihm zusammen Naved B gejagt hatten, ihre Aussagen revidiert? Reichte denn die Tatsache, das Zeuge X Naved B bei einer Gegenüberstellung als Täter identifiziert hatte - wovon man, wie dargelegt, sicher ausgehen kann - nicht aus, um einen dringenden Tatverdacht beizubehalten und einen Haftbefehl zu beantragen?

Für die Bundesanwaltschaft reichte das bekanntlich nicht aus - aber Naved B ist immer noch "unter Kontrolle" der Berliner Polizei, unter einer Art Hausarrest mit gelegentlichem Ausgang. Offiziell heisst es dort, man wolle ihn schützen, aber der Eindruck drängt sich auf, dass die Berliner Ermittler die Aussage von Zeuge X noch nicht gänzlich in Abrede stellen wollen.